Ornella Fieres
Ich halte es für eine Tragödie, daß wir uns nicht gefunden haben!, 2 December 2020 – 27 March 2021
(english version below)
In ihrer dritten Ausstellung bei SEXAUER transformiert Ornella Fieres ein Konvolut an Briefen, Postkarten und Fotografien unter Zuhilfenahme künstlicher Intelligenz (KI) in Kunstwerke: textbasierte Videoarbeiten, Readymade-ähnliche Collagen und KI-generierte Pflanzenbilder.
Zur Entstehungsgeschichte: 2016 erwarb Fieres eine Kiste mit etwa siebenhundert nachgelassenen Briefen der 1960er und 70er Jahre aus der ehemaligen DDR. Die Briefe, darunter Postkarten und Fotografien, waren an eine Frau in Ost-Berlin gerichtet, die nur wenige Hundert Meter von der Galerie SEXAUER entfernt wohnte. Unter den Briefen fanden sich auch einige wenige, die die Empfängerin selbst verfasst hatte.
Die Ausstellung gliedert sich in drei Werkgruppen. Für die Erste ließ Fieres die handschriftlichen Texte von einer auf einem neuronalen Netzwerk basierenden künstlichen Intelligenz in Druckschrift transkribieren. So machte sie die Texte mit teilweise schwer leserlichen Handschriften inhaltlich zugänglich. Manche der über ein halbes Jahrhundert alten Briefe waren noch in Sütterlinschrift verfasst.
Fieres suchte über hundert Textfragmente aus, meist einzelne Sätze, und zeigt diese in der Ausstellung auf drei alten Monitoren. Aufgrund eines Zufallsgenerators wechseln die gezeigten Textfragmente, sodass immer neue Textzusammenhänge entstehen. Manchmal sind die Transkriptionen mit kleinen Fehlern behaftet. Eine KI-generierte Stimme bringt die Texte außerdem zu Gehör.
„Die Erdbeeren verfallen alle im Garten, bei den wegen Regen.“
In der zweiten Werkgruppe ließ Fieres die Fotografien KI-basiert analysieren, d. h. Bildgegenstände erkennen und die Gegenstände schriftlich beschreiben. In Collagen zeigt Fieres die Rückseite der Originalabzüge und darunter die KI-formulierte Bildbeschreibung.
„a man sitting on a bench in a field.“
In der dritten Werkgruppe speiste die Künstlerin ein neuronales Netz mit den Daten von damals typischen Blumenmotiven der im Konvolut befindlichen Postkarten. Fieres generierte KI-basiert aus diesen Informationen neue Pflanzenbilder von eigentümlicher Schönheit.
„Ich glühte vor Aufregung.“
In den drei Werkgruppen dekliniert Fieres ein künstlerisches Verfahren, das ihren Arbeiten eigentümlich ist: Digitale Algorithmen und neuronale Netze transformieren historisches Bild- und Textmaterial in neue Bilder, Texte und Töne. Fieres beschwört Bilder der Vergangenheit und setzt dabei neue in die Welt. Dem Anschein nach könnte es sich um eine technizistische Praxis handeln, aber das Gegenteil ist der Fall. Denn sowohl das künstlerische Verfahren als auch die Arbeiten selbst haben etwas Okkultes, Anarchisches und sogar Spirituelles. Die künstlerische Strategie von Fieres ist ein Wechselspiel von Entdecken und Verdecken, Offenbaren und Verschleiern, Finden und Verlieren, bewusster Auswahl und Kontrollverlust.
„Der Mensch ist doch keine Maschine.“
Worin besteht das Wechselspiel von Entdecken und Verdecken? Zunächst einmal macht die künstliche Intelligenz die Dokumente überhaupt erst lesbar, indem sie die schwierig zu entziffernden Handschriften in Druckschrift umwandelt. Andererseits hat die künstliche Intelligenz eine gewisse Fehlerquote, so dass im schlimmsten Fall Bedeutung verändert wird oder verloren geht.
„Wo soll das noch hinführen.“
Wie die Texterkennung ist die Bilderkennung fehleranfällig. Indem Fieres uns bei den Collagearbeiten die Motive vorenthält, weil sie nur die Rückseiten der Fotografien zeigt, macht sie es dem Betrachter unmöglich, Bildinhalt und Bildbeschreibung zu vergleichen und somit deren Übereinstimmung zu überprüfen. Natürlich befeuert Fieres damit die Vorstellungskraft des Betrachters, der den gelesenen Bildinhalt geistig auf die Rückseite der Fotografie projiziert und sich außerdem fragt, ob dieser zutreffend ist. So entsteht ein eigenes Bild im biologischen neuronalen Netz – oder sagen wir: im Kopf.
„Meine Stimmen verstellte ich.“
Die künstlerische Intelligenz von Fieres und die künstliche Intelligenz der Algorithmen wirken dabei zusammen. Die künstliche Intelligenz transkribiert die Texte und Fieres wählt die Fragmente aus. Und wie immer gibt Fieres an verschiedenen Stellen im Produktionsprozess die Kontrolle ab oder schaltet den Zufall ein.
„Mit meinen Gedanken war ich gar nicht bei der Sache.“
Besonders „zauberhaft“ ist die Umwandlung der DDR-typischen Blumenpostkarten in neue Pflanzenbilder, die etwas Malerisches haben. Sie sind uns nah und fern zugleich. Wie in einer beschleunigten Evolution werden durch unzählige kleine Abweichungen und Variationen neue Arten geschaffen, die uns bekannt vorkommen, vertraut und doch fremd.
„Es liebt uns nichts.“
Historisch haben technische Revolutionen schon immer gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen nach sich gezogen. Diesen Umbrüchen standen die Menschen fasziniert wie auch skeptisch gegenüber. Vor allem wurden die Veränderungen in ihrer Totalität und Komplexität oft als nicht greifbar, bedrohlich und geheimnisvoll erfahren. Dies ist auch bei den Phänomenen der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens der Fall. Bei diesen Techniken gibt es verborgene Schichten sowie eine Komplexität, die zu einem tatsächlichen oder scheinbaren Eigenleben führen. Der Künstler, der die genauen Abläufe ebenfalls nicht kennt, wird so zum Magier, der das Digitale mit dem Okkulten vereint.
„Ich möchte noch nicht sterben.“
Trotz aller Transformationen bleiben alle Arbeiten an die Briefe, Postkarten und Fotografien aus der DDR der 1960er und 70er Jahre rückgekoppelt, an Dokumente aus einem unfreien Land, aus einer Zeit, in der künstliche Intelligenz im Leben der Menschen noch keine Rolle spielte. Immer wieder scheinen in den Texten und Bildern die Umstände und die Ästhetik jener Zeit hindurch, jenes Ortes und manchmal auch des politischen Systems.
„Man muss sich ja jedes Wort genau verlegen, was man schreibt.“
Der größte Zauber aber ist: Die Ausstellung bringt einem diese unbekannte Frau nahe. Eine Reanimation, fast eine Wiedergeburt. Durch all die Transformationen durch künstliche Intelligenz, Rechenvorgänge und maschinelles Lernen scheint das Wesen dieser Frau, dieses Lebens, dieser Zeit.
„Im Augenblick sind leider die Theater geschlossen.“
englisch version
In her third exhibition at SEXAUER, Ornella Fieres transforms a collection of letters, postcards and photographs into works of art with the help of artificial intelligence (AI): text-based video works, ready-made collages, and AI-generated images of plants.
In 2016, Fieres acquired from an inheritance sale a box containing about seven hundred letters from the 1960s and 70s from the former GDR. The letters, including postcards and photographs, were addressed to a woman in East Berlin who lived only a few hundred meters away from SEXAUER gallery. Among the letters were also a few that she had written herself.
The exhibition is divided into three groups of works. For the first, Fieres let an artificial intelligence based on a neural network transcribe the handwritten texts in print. In this way, she made the content of the partially hard to decipher handwriting accessible. Some of the letters, more than half a century old, were still written in Sütterlin script.
Fieres selected over a hundred text fragments, mostly single sentences, and presents them in the exhibition on three old monitors. Due to a random generator, the text fragments on display alternate, so that new textual contexts are constantly created. Sometimes the transcriptions are afflicted with small errors. Additionally an AI-generated voice makes the texts audible.
“The strawberries all decay in the garden, because of rain.”
In the second group of works, Fieres analyzed the photographs with the help of an artificial intelligence. The AI recognized the objects in the pictures and described them in writing. In collages, Fieres shows the reverse side of the original photographs and below them the AI’s description in text.
“a man sitting on a bench in a field.”
In the third group of works, the artist fed a neuronal network with the image data from the collection’s postcards depicting flower motifs that were typical for the time. Fieres used this information to generate new AI-based plant images that display a peculiar beauty.
“I was burning with excitement.”
In the three groups of works, Fieres declines an artistic procedure that is peculiar to her work: digital algorithms and neural networks transform historical images and texts material into new images, texts and sounds. Fieres conjures images of the past and in doing so creates new ones. It seemingly could be a technicist practice, but the opposite is the case. For both the artistic processes and the works themselves have something occult, anarchic and even spiritual about them. Fieres’ artistic strategy is an interplay of discovering and concealing, revealing and disguising, finding and losing, and lastly, a conscious selection and loss of control.
“Man is not a machine.”
What is the interplay of discovering and concealing? Firstly, artificial intelligence converts difficult to decipher handwriting into printed matter, which makes the documents readable. On the other hand, artificial intelligence has a certain rate of error; therefore in the worst case the meaning can be changed or lost.
“Where is this going?”
Image recognition is as error-prone as text recognition. By only showing the back sides of the photographs in the collage works Fieres withholds the image content from the observer. Fieres makes it impossible for the viewer to compare image content and image description and thus to check their correspondence. Naturally, Fieres ignites the imagination of the viewer who mentally projects the read description onto the back of the photograph and wonders whether it is correct. In this way, a separate image is created in the biological neural network – or let’s say: in the mind.
“My voices I disguised.”
The artistic intelligence of Fieres and the artificial intelligence of the algorithms work together. The AI transcribes the texts and Fieres selects the fragments. As always, Fieres relinquishes control at various points in the production process or switches on randomness.
“My mind was not on the matter at all.”
Particularly “magical” is the transformation of the GDR-typical flower postcards into new plant pictures that have something very quaint about them. They are close and far away at the same time. As in an accelerated evolution, countless small deviations and variations create new species which seem known to us, familiar, yet strange.
“It loves us nothing.”
Historically, technological revolutions have always brought about social and economic changes. People have been both fascinated and skeptical about these upheavals. Above all, the changes in their totality and complexity were often experienced as intangible, threatening, and mysterious. This is also the case with the phenomena of artificial intelligence and machine learning. In these techniques there are hidden layers as well as a complexity which lead to an actual or seemingly life of their own. The artist, who also does not know the exact procedures, thus becomes a magician who combines the digital with the occult.
“I don‘t want to die yet.”
In spite of all the transformations, all the works remain linked to the letters, postcards and photographs from the GDR of the 1960s and 70s, the documents from an unfree country, from a time when artificial intelligence played no role in people‘s lives. The circumstances and aesthetics of that time, that place, and sometimes also of the political system, shine through the texts and pictures.
“You have to lay down every word exactly what you write.”
The greatest magic is that the exhibition brings this unknown woman to us. A reanimation, or almost a rebirth. Through all the transformations, through artificial intelligence, calculation processes and machine learning, the essence of this woman, this life, and this time, shines through.
“Unfortunately the theaters are closed at the moment.”